Das Radio mit den vielen Nullen

Berlins ältestes Studenten-Radio versteht sich als Experimentierfeld

 
 
  Erschienen in der Berliner Zeitung am 5. Januar 1995. Diesen Text finden Sie auch im Internetangebot der Berliner Zeitung. Einen Aufsatz über das erste Berliner Studenten-Radio finden Sie zu dem in der Rubrik Veröffentlichungen.  
 
 
  Es ist zwei Minuten vor 21 Uhr. Das Sendeteam stürmt Hörfunkstudios im Offenen Kanal Berlin (OKB). Jetzt muß alles schnell gehen. Die Moderatoren Tim und Henning setzen sich ans Moderationspult. "Wo sind eigentlich die Leute vom AStA?", fragt jemand. - "Müßten gleich hier sein", kommt es knappp zurück. Dann ist es auch schon 21 Uhr. Holger, heute für die Technik verantwortlich, schiebt den Regler hoch. Der Jingle fährt an.

"Hallo. Hier ist Radio 100.000, das Radio mit den vielen Nullen", tönt es. Während die Musik spielt, treffen auch die beiden erwarteten Leute vom AStA zum Studiogespräch ein. Thema: die beabsichtigten Kürzungen von Geisteswissenschaften und Lehrerbildung an der Technischen Universität (TU) Berlin. Radio 100.000, das älteste Studentenradio in Berlin entstand im Universitätsstreik im Wintersemester 1988/89. Der Name erinnert an die Zahl der streikenden Studenten und ist gleichzeitig ein Tribut an den Privatsender Radio 100, der dem Studentenradio auch nach Ende des Streiks ein Fenster zur Verfügung stellte. Seit dem Aus von Radio 100 wird auf dem OKB gesendet.

Angegliedert ist das Radio an das Fach Kommunikationswissenschaft der TU. Das Institut übernahm die Finanzierung der Geräte, und die TU richtete zwei Tutorenstellen ein. Radio 100.000 wurde so in die Lehre des Faches Kommunikationswissenschaft einbezogen, die Tutoren hielten regelmäßig Seminare ab, in denen auch prüfungsrelevante Scheine erworben werden konnten. Im Zuge der Einsparungen strich die TU im Sommer 1994 die Finanzierung und die Tutorenstellen.

Die Redaktion besteht zu einem Großteil aus Studierenden der Kommunikationswissenschaften. Andere studieren Medienberatung, Wissenschafts- und Technikgeschichte, Theaterwissenschaft oder Philosophie. Studentische Belange stehen in der Themenauswahl von Radio 100.000 im Vordergrund: die Zukunft des Radios selbst und vor allem um die Studiensituation. Insofern sind gerade Themen wie Haushaltsplanung oder Hochschulstrukturreform immer wieder im Programm vertreten. Im Streik des vergangenen Wintersemesters produzierte das Radio eigens Kassettensendungen für die Instituts- und Unicafés.

"Bei uns kann eigentlich jeder machen, was ihm Spaß macht", sagt Paul, Architekturstudent. Radio 100.000 sendet Beiträge mit Überlänge, Toncollagen, Montagen, Hörspiele, Featuresendungen und versteht sich in erster Linie als Lern- und Experimentierfeld. Deshalb veranstalten die Redakteure auch immer wieder Workshops, um autodidaktisch technische oder journalistische Fertigkeiten zu verbessern. Holger, Student der Kommunikationswissenschaft, erzählt, daß einige der Radio 100.000-Redakteure auch Beiträge für professionelle Radiostationen produzieren. Einer seiner Kommilitonen schreibt gerade seine Magisterarbeit über Studiotechnik. "Wenn ich in etwa zwei Jahren so weit bin, werde ich mir auch so ein Thema suchen", sagt Holger

Einzig die Sendemöglichkeit sorgt bei Radio 100.000 für Dauerfrust. "Wer hört denn schon den Offenen Kanal?" Auch die Sendung vom OKB-Studio auf der letzten Funkausstellung brachte nicht den erhofften Publicity-Schub. Der Wunschtraum der Studenten bleibt weiter ein Fenster bei einem terrestrischen Sender, doch alle Bemühungen darum sind bisher gescheitert.

 
 
  Nächste Sendungen: heute, 21 Uhr und 12.1., 21 Uhr (Feature zum Thema "Tod")  
 
 

  © 1995 Werner Pluta, Berliner Zeitung; Mail: , Web: http://www.wpluta.de; 04/99 wp