Rebellion ist gerechtfertigt

Der Filmemacher Chen Kaige beschreibt seine Jugend in der Kulturrevolution

 
 
  Meine erste Buchrezenision - erschienen in der Berliner Zeitung am 18. August 1994. Zwei Jahre später schrieb ich über den 30. Jahrestag der Kulturrevolution. Im Zuge der Recherchen zu diesem Artikel traf ich einen ehemaligen Rotgardisten, der mit Chen zusammen gekämpft hatte.  
 
 
  1968, in der Zeit der Studentenrevolte, marschierten die Studenten den mit Bildern von Ho Chi Minh und Mao Zedong durch die Straßen der westeuropäischen Metropolen. Am letztgenannten faszinierte sie eine Kampagne, die dieser zwei Jahre zuvor ausgelöst hatte: die Kulturrevolution. In ihren Augen machte Mao mit Trotzkis Theorie der permanenten Revolution Ernst. Rebellion gegen die verkrusteten Strukturen der Bürokratie - darin sahen sie sich mit den Roten Garden einig. Was die Intellektuellen hierzulande jedoch gern übersahen, war der Terror, den die Roten Garden verübten. Eine Aufarbeitung jener Ereignisse der Jahre nach 1966 hat sowohl in China als auch im Westen nur in Ansätzen stattgefunden.

Der Filmemacher Chen Kaige hat nun mit seiner Autobiographie den Versuch einer solchen Aufbereitung gemacht. Wie schon in einigen seiner Filme, z.B. "König der Kinder" oder der vergangenes Jahr in Cannes ausgezeichnete "Lebwohl, meine Konkubine", setzt sich Chen auch in dem Buch "Kinder des Drachen" mit der Zeit der Kulturrevolution auseinander.

Dem Autor geht es darum, die gesellschaftlichen und historischen Hintergründe in der Volksrepublik China zu schildern. Seine eigene Geschichte erscheint vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund. Chen räumt auf mit den Idealisierungen einer permanenten Revolution. Seine eindringlichen Schilderungen des Terrors, den er am eigenen Leibe erfahren, aber auch selbst mitgemacht hat, lassen keinen Zweifel am Scheitern der Kulturrevolution. Szenen, die aus seinen Filmen bekannt sind, offenbart der Autor als eigene Erfahrung. Zum Beispiel die Szene mit dem Vater in "Lebwohl, meine Konkubine" - Chen gesteht, daß er auf ähnliche Weise seinen eigenen Vater an die Roten Garden verriet - aus Angst ebenso wie aus Scham.

Die bilderreiche und metaphorische Sprache seiner Filme jedoch kommen schriftlich weniger zur Geltung. Oft wirken seinen Metaphern zu überladen, die Reflexionen geraten mitunter zu moralisch.

Gelungen hingegen sind jene Stellen - und die machen den größerern Teil des Buches aus -, wenn der Autor in nüchternen Worten Tatsachen und Ereignisse der Zeitgeschichte und seines eigenen Lebens beschreibt. Dann wird das Beschriebene für den Leser ähnlich lebendig, wie dem Autor selbst bei der nächtlich-heimlichen Lektüre in einem Depot für beschlagnahmte Bücher: "Wenn mich heute jemand fragt, wie ich zum Film gekommen bin, weiß ich immer noch keine rechte Antwort, sie könnte aber lauten: weil ich damals Romane beim Lesen in Bilder verwandelt, sie also filmisch gelesen habe, und feststellte, daß das eine tolle Sache ist."

 
 
  Chen Kaige: Kinder des Drachens. Eine Jugend in der Kulturrevolution. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1994. 192 Seiten. 36 Mark.  
 
 

  © 1994 Werner Pluta, Berliner Zeitung; Mail: , Web: http://www.wpluta.de; 04/99 wp