Geschlossene Gesellschaft

China unternimmt gewaltige Anstrengungen, um den Zugang zum Internet zu kontrollieren. Doch die Regierung steht vor einem Dilemma: Ein bißchen Öffnung gibt es nicht. Ein Bericht aus dem Reich der Mitte von Werner Pluta

 
 
  Erschienen im pl@net, Heft 1/97. Mein erster Magazin-Artikel - und mein erstes dickes Honorar. Ich bin heute noch ein wenig stolz auf diesen Text: Es war (fast) der erste Text über China und das Internet; der erste erschien zwei Monate zuvor in einem Zeit-Special über das Netz. Selbst Wired kam erst ein halbes Jahr später. Weitere China-Artikel folgten im Winter 1997/98 , aber da war ich schon in der zweiten Runde. ;-)

Leider waren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Textes die Tage des "Netz-Wanderers" schon gezählt.

 
 
 
  Es ist Nacht in Beijing. Nur in einem Institut der renommierten Beijing Universität brennt noch Licht. Ein einsamer Student sitzt von einem Computer und surft durchs Internet. Nacheinander betrachtet er die Webpages von westlichen Menschenrechtsorganisationen, Exiltibetern und Porno-Anbietern. Dann diskutiert er heftig in politischen Newsgroups mit, postet Berichte über Verschleppungen von Dissidenten und liest die Rede des Dalai Lama vor dem Deutschen Bundestag. Am nächsten Tag erzählt er seinen Kommilitonen davon, und sofort organisieren sie eine Massendemonstration gegen die Kommunistische Partei auf dem Platz des Himmlischen Friedens.

So oder ähnlich mag der Alptraum von Ding Guangden, dem Chefideologen der Kommunistischen Partei Chinas, aussehen. Der hatte sich Ende 1995 auf seinem Rechner Windows 95 mit einem Webbrowser installiert. Zwei Wochen später verkündete das Ministerium für Post und Telekommunikation, neue Internetzugänge könnten einstweilen wegen technischer Probleme nicht eingerichtet werden.

Nach vorn schauen. Und aufs Geld

Als am 9. September 1976 der große Vorsitzende Mao Zedong starb, war China weitgehend isoliert und noch paralysiert von den Folgen der Kulturrevolution. Seine Nachfolger, Hua Guofeng und danach Deng Xiaoping, setzten auf wirtschaftlichen Fortschritt.

Die Farbe einer Katze, befand Deng, sei ihm egal, so lange sie nur Mäuse finge. Sollte heißen, wie das Geld herein kam, interessierte nicht. Hauptsache es ging voran. Für diesen Fortschritt gab die Partei auch eine Parole aus: "wang qian kan" - "Nach vorne schauen". Betont man jedoch die zweite Silbe anders, wird daraus: "Aufs Geld schauen". Diese Parole gilt auch heute noch.

Der Aufschwung machte vor allem den Ausbau des Kommunikationsnetzes notwendig. Was das anbetrifft, ist China derzeit noch ein Entwicklungsland. Es gibt gerade mal 3,2 Telephone für 100 Menschen. Die Verteilung ist sehr ungleich; die Bauern auf dem Land leben teilweise hunderte Kilometer vom nächsten Apparat entfernt. Dafür boomt das Geschäft mit Handies: China Telecom wird dieses Jahr vermutlich AT&T als Marktführer ablösen. Trotzdem kommt im neuen Fünf-Jahres-Plan (1996 bis 2000) dem Ausbau der Telekommunikationsverbindungen großen Bedeutung zu: Für acht Projekte, darunter auch der Ausbau des Internets, sollen 40 Milliarden Dollar investiert werden. Bis 2010 soll jedes Dorf im Land einen Telephonanschluß bekommen. In den Städten gilt das Ziel "eine Familie ein Telephonanschluß".

Auch die Verbreitung von Computern ist noch sehr gering, die Verkaufszahlen muten eher harmlos an: 1995 wurden 1,15 Millionen Computer verkauft, davon etwa ein Sechstel an private Kunden. Die Wachstumsraten hingegen sind verlockend: 60 Prozent im Jahr 1995, in den nächsten Jahren werden je 30 Prozent erwartet. Der Markt selbst ist weitgehend von amerikanischen High-Tech-Firmen beherrscht, doch die einheimischen Produkte wie Langchao, Great Wall oder Legend ziehen nach. Zur Zeit liefern sie sich sowohl untereinander, als auch mit den Ausländern einen heftigen Konkurrenzkampf - zum Wohl der Kunden. Im Sommer sackten die Preise rapide, und für einen Pentium 75 mußten die Chinesen plötzlich nur noch 9700 Yuan (etwa 1765 Mark) hinlegen - im Gegensatz zu vergleichbaren ausländischen Produkten, die für 15.000 bis 18.000 Yuan (zwischen 2730 bis 3276 Mark) zu haben sind.

Dem boomenden Computermarkt entspricht ein Boom des Internets: Als das erste chinesische Computernetz 1993 ans Internet angeschlossen wurde, gab es gerade mal 1700 Nutzer. Anderthalb Jahre später, im Juli 1995, schätzte das Ministerium für Innere Sicherheit deren Zahl schon 40.000. Noch ein Jahr später waren es 100.000, die Studenten nicht mitgerechnet. Tendenz: weiterhin steigend. Westliche Geschäftsleute berichten erstaunt, daß neben auf den Visitenkarten ihrer chinesischen Geschäftspartner neben der Telephon- und Faxnummer inzwischen die E-Mail-Adresse fast obligatorisch ist.

Nachrichtenmonopol Internet

Der chinesischen Regierung ist angesichts dieser Entwicklung nicht wohl zumute. Schon in den westlichen Staaten, in denen die Presse- und Meinungsfreiheit in den Verfassungen stehen, gibt es starke Tendenzen, die freie Kommunikation im Internet zu regulieren, wie die Affäre um Compuserve oder die versuchte Einführung des Information Deceny Acts durch US-Präsident Bill Clinton zeigen.

Um wieviel mehr muß das Internet einer Regierung Kopfzerbrechen bereiten, die für sich ein Nachrichtenmonopol in Anspruch nimmt. Den hat Parteichef Jiang Zemin selbst kürzlich noch mal unterstrichen, als er von den Medien die strikte Einhaltung der Parteilinie forderte. Der Erhalt des Monopols dient der Kontrolle des Informationsflusses, sowohl aus dem Land hinaus, als auch ins Land hinein. Hinausdringen sollen keine Staatsgeheimnisse, worunter Wirtschaftsdaten von Staatsbetrieben ebenso wie Berichte über Menschenrechtsverletzungen, Massenhinrichtungen und Deportationen fallen. Andererseits, so fürchtet die Parteileitung, könnten subversive Informationen und Pornographie nach China hineindringen und zu sozialer und ökonomischer Instabilität und Unordnung führen - im konfuzianischen, auf Harmonie ausgerichteten Denken ein schlimmes Unheil. Die Trennlinie zwischen subversiven Informationen und Pornographie ist dabei schwammig: In der Nomenklatur der Machthaber fallen Informationen von Dissidenten, Exiltibetern und Taiwanesen, Menschenrechtserklärungen oder Berichte über Umweltschäden ebenso unter den Begriff Pornographie wie obszöne Photos mit nacktem Fleisch.

Der amerikanische Wissenschaftler und Autor Ogden Forbes hingegen vermutet hinter den Kontrollbemühungen auch handfeste ökonomische Interessen. Er glaubt, daß die Regierung vom Informationsfluß im Land und nach draußen finanziell profitieren will. Nicht ganz zu Unrecht: Der Nachrichtendienst China News Service, der zwar in Hongkong ansässig ist, aber zum Großteil der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua (Neues China) gehört, stellt die Nachrichten der letzten sieben Tage nur zahlenden Abonnenten zur Verfügung. Wer ohne zu zahlen bei China News Service sucht, bekommt nur Nachrichten, die bereits acht Tage alt sind.

Doch trotz der Möglichkeit, mit dem Internet Geschäfte zu machen, hat die Regierung Angst - und entsprechend handelt sie. Im Februar letzten Jahres erließ sie ein neues Internet-Gesetz. Seither müssen User sich beim Amt für öffentliche Sicherheit registrieren sowie den Wechsel zu einem anderen Provider oder die Aufgabe des Accounts mitteilen. Außerdem versprechen sie schriftlich, das Internet nicht zu kriminellen Zwecken und zum Schaden der Nation zu nutzen. Bei Zuwiderhandlungen drohen Strafen "in Übereinstimmung mit den Bestimmungen über den Schutz von Computerdatensystemen der VR China". So übt die Regierung vor allem psychologischen Druck auf die Netizens aus: Wer läßt sich in einem Staat, in dem Verhaftungen ohne Gründe nicht unüblich sind, schon gern von der Polizei erfassen?

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

Getreu den Worten des Genossen Lenin setzt auch die KPCh lieber auf Kontrolle als auf das Vertrauen, daß sich die Surfer an ihr Versprechen halten: Seit September blockiert das Ministeriums für Post und Telekommunikation (MPT) mit Hilfe von Filterprogrammen den Zugang zu mehreren hundert ausländischen Servern mit heiklem politischen Inhalt. Seiten von Menschenrechtsorganisationen, Tibet-Gruppen, den Demokratiebewegungen in Taiwan und Hongkong sind ebenso gesperrt wie die von westlichen Medien wie dem Wall Street Journal, der New York Times, der Washington Post - und, schon obligatorisch, dem Playboy. Auch Websites von Überseechinesen, z.B. der in den USA ansässige Nachrichtendienst China New Digest (CND) und die Independent Federation of Chinese Students and Scholars, blieben nicht verschont. Offen sind nur noch Websites ohne oder mit geringem politischen Inhalt sowie die von offiziellen ausländischen Regierungsstellen.

Für Kenner der Szene kam diese Aktion jedoch nicht überraschend: Bereits im Juni 1995 hatte ein Repräsentant des MPT auf einem Treffen der Internet Society auf Hawaii angekündigt, die Regierung in Beijing beabsichtige, anstößige Informationen aus dem Land herauszuhalten. Schon im letzten Frühjahr geisterte eine Meldung durchs Usenet, das MPT habe den Zugang zur Webpage von CNN geschlossen.

Tatsächlich ist Internet in China eine zwiespältige Angelegenheit. Die Machthaber in Beijing wissen durchaus um die Wichtigkeit dieses Kommunikationsmediums für den Fortschritt in Wissenschaft und Wirtschaft. Neben den genannten Restriktionen treibt sie Ausbau des Internets voran und ermutigt die Bürger, sich einen Account zu beschaffen. Anfang Oktober startete erst wieder eine Kampagne für das Internet in Beijing: Schilder mit der Aufschrift "Internet", Werbung in Zeitungen und Berichte im Fernsehen machen den Bürgern das globale Kommunikationsnetz schmackhaft, und der Marketingchef der Beijinger Telegraphenbehörde verkündete: "Jeder darf sich anmelden." Die Provider liefern sich unterdessen einen Kampf um das Geschäft mit den Internet-Boom - mit findigen Mitteln: Einer produzierte zusammen mit einer Fernsehstationen Sendungen, in denen die nötige Hard- und Softwareeinrichtung für den Internet-Zugang erklärt wurden, während andere ihren Kunden freie Trainingsstunden offerieren.

Ein Kabel muß reichen

Mit einem können sie jedoch nicht werben: mit besseren Verbindungen als die Konkurrenz. Freies Routing gibt es in China nämlich nicht. Seit Januar 1996 gibt es nur einen einzigen Link aus China hinaus in die große, weite Welt des Internet: über das MPT. So hofft die Parteileitung, die Online-Kommunikation zu überwachen - theoretisch zumindest. Ob der Aufwand, Filterprogramme einzurichten, um Websites zu sperren, oder Traces, um Userprofile zu erstellen, einem lohnenden Nutzen entspricht, ist zweifelhaft: Wer soll mißliebige URLs in die Filter eingeben, wer die Surfprotokolle auswerten? Zumal die Möglichkeiten, derartige Maßnahmen zu umgehen, recht einfach sind. Nutzt der Datenreisende einen Proxy zum Aufrufen von Webpages, läßt sich nicht mehr feststellen, wohin er von dort aus weiter gesurft ist. Webpages hingegen kann man spiegeln - wie auch die Mannheimer Staatsanwaltschaft erfahren hat, als sie den Zugang zum Server mit der Homepage des Neonazis Zündel sperrte und Zensurgegner auf der ganzen Welt diese Seite spiegelten. Folgerichtig hat eine der gesperrten Organisationen, CND, in ihrem Newsletter Global News die Leser dazu aufgerufen, auf ihren eignen Homepages die CND-Seiten zu spiegeln.

In diese Verlegenheit wird der kommerzielle Anbieter "China Internet" nicht kommen. Dieser Server in Hongkong beherbergt Webpages von Unternehmen aus Taiwan, Hongkong und der Volksrepublik. Chef James Chu geht es nur darum, Geschäfte zu machen: Vier Millionen Kunden will er bis zu Jahrtausendwende werben. Da bleibt keine Zeit für politisches Engagement oder zum Programmieren subversiver Webseiten - sehr zum Wohl von Ding Guangdens Nachtruhe.

Entwarnung für die Regierung

Ob die Netter in China nun tatsächlich das Web zu subversiven oder nur zu wissenschaftlichen und Geschäftszwecken nutzen, läßt sich kaum feststellen. Es kursieren zwar abenteuerliche Geschichten, wie Dissidenten das Netz nutzen: Boten schmuggeln geheime Berichte nach Hongkong, von wo aus sie auf eine nicht gelinkte Website auf einem Server im Europa transferiert werden sollen. Westliche Experten wie die Sinologin Gudrun Wacker jedoch halten solche Berichte für ähnlich übertrieben wie die Angst der Regierung. Letztlich sei es egal, wie die Informationen ins oder aus Land kämen - ob über Fax, Handy, Satellitenfernsehen, durch die Berichte der Studenten, die in allen Ländern der westlichen Welt studieren oder über das Internet. "China hat die Entscheidung getroffen. Das Land läßt sich nicht mehr wie in der Kulturrevolution abschotten."

Zudem ist die Dichte der Computer im Land noch so gering, daß das Internet kaum ein Gefahrenpotential darstellt. Internetnutzung funktioniert häufig noch so, wie an dem Institut der Universität Ürümqi im Nordwesten des Landes: Wenn Gudrun Wacker ihren chinesischen Kollegen dort eine E-Mail schickt, druckt die Sekretärin die Mail für den Adressaten aus. Daß subversives Material auf diese Weise ins Land gelangt, ist praktisch ausgeschlossen.

Auch die Schließung von Bulletin Boards an mehreren Universitäten der Hauptstadt wegen zu extremistischer Diskussionen und Demonstrationsaufrufen anläßlich des Streites mit Japan um ein paar kleine Inseln nordöstlich von Taiwan scheint überzogen. Der Inseldisput ist seit langem das erste politische Ereignis, das die Menschen in China bewegt - im "Sinne des von der Regierung geförderten neuen chinesischen Nationalstolzes. Man darf darüber spekulieren, ob das Mißtrauen gegen das Internet nicht nur ein weiterer Beleg eines wachsenden Mißtrauens gegen westlichen Lebensstil ist - vergleichbar mit dem Aufruf der Partei in Shanghai, sich untereinander wieder als Genosse anzureden oder der in Sommer erschienenen Aufsatzsammlung "China kann nein sagen", in der sich fünf junge Schriftsteller, Unidozenten und Journalisten vehement gegen die Invasion westlicher Kultur und die Nachahmung des amerikanischen Lebensstiles wenden.

Das Dilemma, in dem China sich befindet, bleibt: im globalen Business mitmischen, das nach westlichen Konzepten funktioniert und sich westlicher Technologie bedient, aber die Kontrolle und die eigene Identität bewahren zu wollen - und das hat mit dem Internet selbst herzlich wenig zu tun.

 
 
  China+Internet - einige Links zu China
Binäres Analphabetentum - oder: How to read Chinese on the Internet
 
 
 

  © 1997 Werner Pluta, pl@net; Mail: , Web: http://www.wpluta.de; 04/99 wp